Presseartikel zu “opposites & dialogues”

Süddeutsche Zeitung, Landkreis Starnberg, R7, Montag 14. Juni 2021

Ausstellung: Antworten in Bildern

Harry Sternberg und Thorsten Fuhrmann zeigen ihre Fotografien “Opposites and Dialogues” im Uttinger Raum B 1

Von Katja Sebald, Utting

Das “Real Life” steht wieder hoch im Kurs, nicht erst, seit alle in den Monaten der Pandemie ohne Kontakt zu echten Menschen vor den Bildschirmen dahinvegetierten, und nicht erst, seit eine Netflix-Dokumentation vor dem Gebrauch sozialer Medien gewarnt hat. Die aktuelle Ausstellung im “Raum B 1” aber hätte es nicht gegeben, wären sich Thorsten Fuhrmann und Harry Sternberg, die sich nur dem Namen nach kannten, nicht in Facebook begegnet. Freilich haben auch sie ihr Projekt “Opposites and Dialogues” irgendwann ins echte Leben verlagert – und dort präsentieren sie es jetzt auch: In einem echten Ausstellungsraum für echte Zuschauer und sogar zum Anfassen in einem echten kleinen Büchlein auf echtem Papier.

Harry Sternberg, Jahrgang 1953, kuratiert seit 2017 die Ausstellungen im “Raum B1”, dem ehemaligen Fremdenverkehrsamt am Uttinger Bahnhofsplatz 1. Beinahe ebenso lange führt er eine Art fotografisches Tagebuch mit dem Smartphone, das er unter dem Titel “en passant – im Vorbeigehen” bereits in verschiedenen Zusammenhängen präsentierte. Es sind keine sorgfältig inszenierten Aufnahmen, sondern winzige Ausschnitte der Welt, Merkwürdigkeiten und Nebensächlichkeiten, die ihm im Alltag begegnen. Auch wenn Sternberg, der an der Neuen Kunstschule Zürich ein Fernstudium für Fotografie absolvierte, für diese Momentaufnahmen keine professionelle Kamera einsetzt und die Bilder so gut wie nicht bearbeitet, so profitieren sie doch von seinem geschulten Auge, von der geübten Wahl des richtigen Ausschnitts wie auch von seinem konzeptionellen Denken in Serien. Zunächst aber postete er diese Alltagsbildchen einfach in Facebook.

Utting:  B1  opposites & dialogues
Besteck zu Besteck: Fuhrmann antwortete auf Sternbergs Alltagsbilder stets mit einem Pendant. (Foto: Nila Thiel)

Was für eine Überraschung, als aus den Tiefen des Netzes jemand auftauchte, der zu jedem dieser Bilder ein anderes Bild als Antwort postete. Thorsten Fuhrmann, geboren 1961, lebt als Künstler und Kurator in Huglfing. Er studierte Kunstgeschichte und Volkskunde, seine eigene Kunst findet er abseits der Ausstellungen und Museen, manchmal auf Bergwanderungen und meistens ebenfalls “im Vorbeigehen”. Seit vielen Jahren entstehen unterschiedli- che Arbeiten und Projekte mit den Schwerpunkten Bücher, Collagen, Copy-Art, Editionen, Fotografie, Mailart, Malerei, Performance, Text- und Schrift. Man könnte meinen, seine Fotoserie “Ich war’s nicht” ist eine passgenaue Ergänzung zu den Fotos von Harry Sternberg.

Der Titel dieser Serie weist in seiner Doppeldeutigkeit aber bereits darauf hin, dass es so einfach eben nicht ist. Besteht nun die Kunst darin, eine Hauswand zu bekritzeln? Ist es Kunst, ein ausrangiertes Besteck auf einen Maschendraht zu stecken? Oder kann man schon von Kunst sprechen, wenn jemand Hunderte von Schneestangen beim Stapeln ordentlich nach Farben sortiert? Oder werden all diese Dinge erst zu Kunst, wenn der Fotograf sie für bildwürdig erachtet? Wenn er Strukturen, Ordnung, Rhythmus und Schönheit sieht, wo jemand etwas beschädigt, liegen gelassen oder aufgeräumt hat? Oder, noch einen Schritt weiter, entsteht die Kunst erst in dem Moment, in dem sich zwei Künstler begegnen, die ähnlich ticken? Wenn sie die Welt ein kleines bisschen freundlicher und schöner machen, weil sie ihre Fundstücke austauschen und sie in einer Art Frage-und-Antwort-Spiel zu Bildpaaren anordnen?

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Harry Sternberg (rechts) und Thorsten Fuhrmann haben sich über die sozialen Medien gefunden. (Foto: Nila Thiel)

Und so kommt zur Wandkritzelei eine zweite Wandkritzelei. Zu den Gabeln auf dem grünen Maschendraht finden sich zwei grüne Eislöffelchen zwischen Grashalmen. Ein Haufen Knöpfe antwortet auf einen Haufen alter Brillengestelle, ein Irgendwas in Pastelltönen gehört zu einem anderen pastellfarbigen Ausschnitt der Welt, ein Licht zu einem Schatten, ein vergessenes Fahrradschloss zu einem verknoteten Seil. Bis zum 4. Juli 2021 ist der kleine Ausstellungsraum an den Sonntagnachmittagen geöffnet. Der Betrachter darf sich dann auf ein kleines Stühlchen setzen und sich, von Musik eingelullt, durch diese wundersam heitere Bilderwelt träumen, die in einer Slideshow präsentiert wird.

Wem das nach Ausgangssperre und Kontaktbeschränkung doch noch zu viel “Real Life” ist, der kann die Bilder-Show an allen anderen Tagen durch ein Guckloch in der Tür anschauen oder sich das kleine Büchlein kaufen, das im icon-Verlag zur Ausstellung erschienen ist: Die beiden Künstler haben darin sechzig Bilder so gegenübergestellt, dass das Buch zwei Anfänge, aber kein Ende hat.

Juni 2021, 21:57 Uhr

opposites and dialogues

opposites and dialogues
Thorsten Fuhrmann & Harry Sternberg

Ausstellungsdauer: 11. Juni bis 4. Juli 2021
Eröffnung am Freitag 11. Juni 2021 ab 17 Uhr
Die Künstler sind an den Sonntagen von 14 bis 17 Uhr anwesend.

Thorsten Fuhrmann und Harry Sternberg fotografieren; sie fotografieren manchmal ähnliche Motive. Der Blick für alltägliches, für leicht zu übersehendes ist beiden zu eigen. Beide nutzen für ihre Bilder das Smartphone, beide bearbeiten diese im Nachhinein kaum oder gar nicht.

Was haben ein vergessenes Fahrradschloss und ein Seil um einen Baum geschlungen gemeinsam, was eine schwarze Klinker- und eine rote Backsteinwand?

Ob Architekturdetails, Warenpräsentationen, manchmal auch Menschen; ob Makro oder Mikro; es ist ein genauer Blick auf die zumeist übersehenen, alltäglichen Dinge und Situationen.

Harry Sternberg führt seit 2017 mit dem Smartphone ein Tagebuch in Bildern „en passant – im Vorbeigehen“ mit täglichen visuellen Eindrücken. Es sind besondere Ausschnitte der Welt erfasst in einem kurzen Moment. Als Betrachter spürt man sein geschultes fotografisches Auge und sein Denken in Serien. Ein Fotoband mit einer Auswahl seiner Bilder ist inzwischen im Eigenverlag erschienen.

Thorsten Fuhrmann sucht nicht, aber findet Kunst abseits der Ausstellungen und Museen. Auf einer Bergwanderung, in der Symmetrie eines Stadels, in einem weggeworfenen Draht. „Ich war´s nicht“ heißt die Serie doppeldeutig. Die Kunst liegt im Sehen und Erkennen, oder sind nun doch die Fotos Kunst? Und wer ist der Künstler?

In der Reihe „so-viele“ im Icon-Verlag von Hubert Kretschmer ist ein Heft zum Projekt erschienen. Die beiden Künstler haben 60 Bilder gegenübergestellt, ohne Erklärungen und ohne die jeweilige Autorenschaft anzugeben. So ist es nahezu selbst erklärend, dass das Buch zwei Anfänge, aber kein Ende hat.


so-VIELE.de Heft 73
ISBN 978-3-946803-86-7
icon Verlag Hubert Kretschmer, München 2021

Auflage: 750 Exemplare
Verkaufspreis: 3.- €

Harry Sternberg, geboren 1953, lebt als Künstler und Kurator in Utting am Ammersee. Setzte sich schon länger mit dem Medium der Fotografie auseinander. An der Neuen Kunstschule Zürich absolvierte er von 2002 bis 2004 ein Fernstudium für Fotografie. Seit Anfang der 90er-Jahre zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen und Dokumentationen in denen der Mensch im Mittelpunkt steht. Seit 2017 Kurator des raumB1 in Utting, einem Ort von Kunst, Kultur und Begegnung.

raumb1@web.de

Thorsten Fuhrmann, geboren 1961, Künstler und Kurator, lebt in Huglfing.
Studium der Kunstgeschichte und Volkskunde. Seit 1978 künstlerisches Schaffen mit den Schwerpunkten Bücher, Collagen, Copy-Art, Editionen, Fotografie, Mailart, Malerei, Performance, Text- und Schriftarbeiten. Zahlreiche Ausstellungs- und Projektbeteiligungen.
kunstimoberland@gmail.com