Starnberger SZ-Artikel zur Ausstellung “FRAGMENTS#02 Locked out / Locked in”

Eingesperrte Natur

Starnberger SZ vom 22. Januar 2023, 16:39 Uhr

Joerg Staeger hat die Natur im Raum B1 am Uttinger Bahnhof “eingeschlossen”.
(Foto: Franz Xaver Fuchs)

Wolken ziehen vorüber, es summt und zirpt: Joerg Staeger hat für seine Video-, Raum- und Klanginstallation Bilder und Geräusche ursprünglicher Gegenden im Raum B1 in Utting eingeschlossen.

Von Katja Sebald

Es ist eine verkehrte Welt: Der Betrachter steht draußen in der Kälte vor dem Fenster und blickt auf die Naturerscheinungen im Innenraum, auf der anderen Seite der Scheibe. Wolken bewegen sich über die Rückwand des kleinen Ausstellungsraums, Wasserflächen glitzern, Gräser wiegen sich im Wind, kahles Astgewirr schiebt sich vor den Himmel. Das Zirpen von Insekten, das Rascheln von Pflanzen, das Knacken von Ästen, das Rauschen des Windes und alle anderen Geräusche scheinen ebenfalls von innen nach außen zu dringen. Die Video-, Raum- und Klanginstallation von Joerg Staeger, die derzeit nach Einbruch der Dunkelheit im Raum B1 in Utting zu sehen ist, spielt mit dieser Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse.

Mit “FRAGMENTS#02 Locked out / Locked in” setzt der Künstler eine Reihe fort, in der er sich mit Ganzheit und Fragmentierung auseinandersetzt. Staeger, der am Ammersee und in New Mexico lebt, zeigt seine Arbeiten vorzugsweise im öffentlichen Raum. Das kleine rotgestrichene Häuschen mit der Hausnummer Bahnhofsplatz 1, in dem einstmals das Fremdenverkehrsamt untergebracht war, erschien ihm deshalb als Ausstellungsort geradezu ideal. Von Donnerstag bis Sonntag werden nun nach Einbruch der Dunkelheit die flimmernden Projektionen hinter dem großen Schaufenster und die geheimnisvollen Naturgeräusche aus dem verborgenen Lautsprecher nicht nur gezielt angereiste Kunstinteressierte, sondern auch zufällig Vorbeikommende zum Innehalten einladen. Mit Ausstellungen, die nur durch die Scheibe zu sehen waren, hatte Harry Sternberg, der die Ausstellungen im Raum B1 kuratiert, den Uttingern auch in den langen Lockdown-Monaten der letzten Jahre Begegnungen mit Kunst ermöglicht.

Joerg Staeger bespielt nun den Raum mit Hilfe von fünf Projektoren, die unterschiedliche Bilder auf die Rückwand und auf drei im Raum aufgespannte transluzente Flächen werfen. Zu sehen sind Bildsequenzen, die der Künstler in der Wildnis der südlichen Rocky Mountains aufgenommen und anschließend digital bearbeitet, stark fragmentiert, gerafft und zu einer mehr oder weniger abstrakten Komposition zusammengefügt hat. Während man bei den Wolkenformationen noch sehr deutlich die unvergleichliche Weite des amerikanischen Himmels ausmachen kann und die Gräser als eindeutig nicht europäisch zu identifizieren sind, besteht in anderen Passagen die einzige Assoziation zu realen Naturerscheinungen in den Klängen, mit denen der Musiker Markus Muench die bewegten Bilder unterlegt hat. Seine Komposition “Materie III” entstand aus Field-Recording-Material. Durch Überblendungen, Unterbrechungen und Wiederholungen greifen Bild und Ton immer wieder aufs Neue ineinander.

Den Betrachter hat der Künstler bewusst vom Geschehen ausgeschlossen

Staeger hat den Betrachter nicht allein wegen der räumlichen Enge, sondern ganz bewusst vom Geschehen im Inneren ausgeschlossen und gleichzeitig seine künstlerische Arbeit im Raum “eingeschlossen”. Man kann zwar von außen Augen- und Ohrenzeuge eines komplexen Geschehens werden, das große räumliche Zusammenhänge und Bewegungsfreiheit inmitten weiter Landschaften suggeriert, kann aber wegen der Scheibe nicht unmittelbar teilnehmen oder gar “eintauchen”. Der Künstler will mit seiner Arbeit einen “Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstrom” erzeugen und auf das “intuitive Verständnis fundamentaler Beziehungen” hinweisen. Er sagt: “Ereignisse und Kräfte im Wandel, die unsere Welt ausmachen, werden sichtbar und erlebbar und können tiefere Erlebensschichten erreichen.” Gleichzeitig soll auf “ein Dilemma der menschlichen Wahrnehmung” verwiesen werden, wenn Staeger im Begleittext fragt: “Wo entsteht Bewusstheit? Wie wahr ist unsere Wahrnehmung? Oder ist alles nur eine immer wieder neue Anordnung neuronaler Fragmente zu einer gesamten mentalen Erscheinung?”

Nicht jeder, der am Uttinger Bahnhof aus dem Zug steigt, in der Bahnhofskneipe ein Bier getrunken oder einfach nur einen Abendspaziergang gemacht hat, wird sich mit solchen Fragestellungen auseinandersetzen wollen. Aber man kann ja auch einfach nur so ein Viertelstündchen unter dem Vordach stehen bleiben – im Rücken das echte Schneegestöber dieser Januartage und vor sich die Wolken im blauen Himmel über den Rocky Mountains.

“FRAGMENTS#02 Locked out / Locked in” ist bis zum 23. Februar 2023 jeweils von Donnerstag bis Sonntag von 17 bis 22 Uhr zu sehen und zu hören.

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