Artikel von Katja Sebald, Süddeutsche Zeitung vom 06. April 2021
Heimat finden durch die Kunst
In seinem „Raum B1“ zeigt Harry Sternberg immer wieder Geschichten von Aufbruch und Ankommen in Utting
Von Katja Sebald, Utting
Die Eltern von Harry Sternberg waren Heimatvertriebene aus Schlesien, er selbst kam 1953 in Niederbayern zur Welt. Und doch fühlte auch er sich viele Jahre seines Lebens entwurzelt. Angekommen ist Sternberg erst, seit er mit seiner zweiten Frau in Utting am Ammersee lebt. Zur Erforschung von heimatgeschichtlichen Themen habe er vor allem wegen seiner eigenen Heimatlosigkeit gefunden, sagt er rückblickend.
Harry Sternberg, für den Tassilo-Kulturpreis nominiert, wuchs auf einem abgelegenen Bauernhof bei Eggenfelden auf. Weil er ein später Nachzügler in der Familie war, hatte er keinen Kontakt zu anderen Kindern. Auch in der Schule blieb er ein Einzelgänger, er war schüchtern und hatte schlechte Noten. Sein einziges Glück war eine Kamera, die ihm sein Vater schenkte. Er brach die Schule ab, kam als Fünfzehnjähriger ganz allein nach München, machte eine Ausbildung und wohnte in einem Lehrlingsheim. Das Abitur holte er auf dem zweiten Bildungsweg nach, es folgten ein Ingenieurstudium und dann viele Berufsjahre im Bereich Energieberatung und -management. In den 1990er Jahren, nachdem er an den Ammersee gezogen war, fing er wieder an zu fotografieren. Bald darauf absolvierte er ein Fernstudium Fotografie an der Neuen Kunstschule Zürich.
Ein Fotoprojekt war schließlich sein Einstieg in die Heimatforschung: Für eine Ausstellung porträtierte er Menschen aus seinem neuen Wohnort, später fotografierte er für ein Buch über Holzhausen. 2017 stellte er in einer kleinen Ausstellung zwei Flüchtlinge vor, die in Utting eine neue Heimat gefunden hatten. Einer von ihnen war sein Schwiegervater, der mit 15 Jahren noch ganz zuletzt in den Krieg geschickt wurde, in russische Gefangenschaft geriet und nach vielen Umwegen seine Familie, die aus Böhmen vertrieben worden war, in Utting wiederfand. Dort blieb er bis zu seinem Tod. Beim Ausräumen seines Hauses stieß Sternberg auf eine Kiste mit Dokumenten und Fotos. Der zweite Porträtierte war ein junger Syrer. Auch er hatte seine Heimat verlassen. Auch er war vom Krieg traumatisiert, von seiner Familie getrennt.
Seit einigen Jahren mietet Harry Sternberg von der Gemeinde Utting ein kleines Häuschen am Bahnhofsplatz, in dem früher das Fremdenverkehrsamt untergebracht war. Als „Raum B1“ stellt er es Künstlern aus der Region für Ausstellungsprojekte zur Verfügung und zeigt dort selbst immer wieder heimatgeschichtliche Dokumentationen. „Ich habe mir damit einen Lebenstraum erfüllt“, sagt er. Den Anfang machte er 2018 mit der Ausstellung „Häftling Nr. 1“ über Claus Bastian, der als Kind in Utting lebte und dort in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Hochrad durch die Bahnhofstraße sauste. Auch er war ein Schulabbrecher, er arbeitete als Bauer, Schmied und Schäfer. Nachdem er doch noch einen Abschluss gemacht hatte, studierte er an der Sorbonne, traf in Paris Miró und Picasso und verdiente sich ein Zubrot als Stepptänzer im „Folies Bergère“. Zurück in München war er Dandy und Kommunist zugleich. Als Gründer des „Marxistischen Studentenclubs“ verschleppten ihn die Nationalsozialisten bereits im März 1933 in die stillgelegte Pulver- und Munitionsfabrik bei Dachau, wo er als Häftling mit der Nummer 1 des neu eingerichteten Konzentrationslager registriert wurde. Kurz zuvor hatte er sein juristisches Staatsexamen abgelegt. Nachdem er mit viel Glück den NS-Schergen entkommen war, führte er in der Nachkriegszeit mehr als 2000 Wiedergutmachungsverfahren für Israelis und wurde unter anderem Anwalt von Albert Schweitzer.
Zum 70. Jahrestag konzipierte Sternberg eine Ausstellung über das Herbsttreffen der „Gruppe 47“, das 1949 im Café Bauer in der Uttinger Bahnhofstraße stattfand. 2021 soll nun eine Ausstellung über das Haus folgen, das Bertold Brecht im Sommer 1932 in Utting kaufte und nur sieben Wochen lang bewohnte.